Oct 16

ADHS verstehen: Zwischen Klischees, Mythen und Realität


Ein Artikel von Timo Warnholz
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Der Begriff ADHS löst in Menschen vollkommen unterschiedliche Gedanken aus. Grund dafür ist, dass die Störung noch immer mit vielen Klischeevorstellungen und Vorurteilen behaftet ist. Ist ADHS vielleicht nur eine Modediagnose? Sind von einer ADHS betroffene Kinder einfach nur schlecht erzogen oder auf der andauernden Suche nach Aufmerksamkeit? Dies sind Fragen, die sich Menschen zu diesem Thema immer noch stellen, was leider heutzutage weiterhin dazu führt, dass Kinder mit einer ADHS stigmatisiert werden. Und das vollkommen zu Unrecht.

Menschen mit ADHS werden in der Regel aus der falschen Perspektive betrachtet. Sie werden als zu laut, distanzlos oder übergriffig wahrgenommen. Dabei reicht nur ein kleiner Perspektivwechsel, um zu erkennen, dass von ADHS betroffene Menschen voller Ressourcen und wunderbarer Eigenschaften sind. Wir müssen uns nur erlauben, diese Perspektive einzunehmen. Aus diesem Grund ist dieser Artikel entstanden. Denn nur wer die Grundlagen und Werkmechanismen einer ADHS versteht, kann ein Verständnis für die Verhaltensweisen betroffener Menschen entwickeln. Dafür sollten wir zuerst einen Blick auf die Definition werfen:

ADHS
steht für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Es handelt sich hierbei um eine neurologische Entwicklungsstörung. Laut der ICD-11 sind Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität die primären Symptome der Störung.

Grundsätzlich könnte man ADHS auch als Dysregulationsstörung der Exekutivfunktionen bezeichnen. Das bedeutet, dass Menschen mit ADHS Probleme damit haben, ihre Wahrnehmung, ihr Verhalten und ihre Gefühle zu organisieren. Ein wichtiger Punkt ist hierbei, dass nicht alle Menschen mit ADHS in ihrer Symptomatik gleich sind, denn es gibt deutliche Unterschiede in der Ausprägung. Nach dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5. Ausgabe (DSM-5) wird ADHS in drei Subtypen unterteilt:

  • Der erste Subtyp wird als überwiegend unaufmerksames ADHS bezeichnet und ist durch Symptome wie Konzentrationsschwierigkeiten und leichte Ablenkbarkeit gekennzeichnet.
  • Der zweite Subtyp wird als überwiegend hyperaktiv-impulsives ADHS bezeichnet und ist durch Verhaltensweisen wie starker Bewegungsdrang, ständiges Reden und Handeln, ohne nachzudenken, gekennzeichnet.
  • Der dritte und letzte Subtyp bei ADHS ist als kombinierter Typ oder Mischtyp bekannt, der sich auf eine Kombination aus unaufmerksamen und hyperaktiv-impulsiven Symptomen bezieht.


Interessant ist hierbei, dass Jungen vermehrt vom hyperaktiv-impulsiven Subtyp betroffen sind, während bei Mädchen eher der unaufmerksame Subtyp diagnostiziert wird.1 Aber wo liegen jetzt die Unterschiede im Verhalten? Um sich diesbezüglich ein besseres Bild machen zu können, ist es sinnvoll, einen genaueren Blick auf die Aufteilung der Symptome in die Kernbereiche Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität zu werfen. 

Symptome von Unaufmerksamkeit

  • Nichtbeachtung von Details oder Flüchtigkeitsfehler
  • Schwierigkeiten beim Zuhören, bei direkter Ansprache
  • Dinge und Informationen verlegen, die für Aufgaben oder Aktivitäten benötigt werden
  • leicht durch andere Reize ablenkbar
  • bei täglichen Aktivitäten vergesslich

Symptome von Hyperaktivität und Impulsivität

  • motorische Unruhe
  • übermäßiges Laufen oder Klettern in Situationen, in denen es unangebracht ist
  • Schwierigkeiten, ruhig zu spielen oder Freizeitaktivitäten nachzugehen
  • übermäßiges Reden
  • unverblümte Antworten, bevor die ganze Frage gehört wurde
  • häufiges Unterbrechen anderer


Die Symptome können sich im Laufe der Jahre verändern. Denn ein weiterer Glaubenssatz aus der Vergangenheit, nämlich die Idee, dass ADHS sich verwächst und im Erwachsenenalter nicht mehr vorkommt, kann mittlerweile durch wissenschaftliche Erkenntnisse widerlegt werden. Die Schön Klinik Gruppe geht davon aus, dass die Störung bei ca. 60% der Betroffenen nicht mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter verschwindet. Die Symptomatik verändert sich allerdings in ihrer Art und Ausprägung: So kann der motorische Bewegungsdrang bei Kindern einer ständig vorhandenen inneren Unruhe bei Erwachsenen weichen. Verminderte Aufmerksamkeit weicht Desorganisation, während Prokrastination oder Stimmungsschwankungen hingegen eine stärkere Relevanz bekommen können. 

Mögliche Ursachen

Die Frage nach den Ursachen der ADHS wird leider immer noch kontrovers und oft auch sehr emotional diskutiert. Die Ursachen sind verschiedenartig und bisher noch nicht vollständig geklärt. Sicher ist, dass dabei viele sich gegenseitig beeinflussende Faktoren beteiligt sind. Laut der ADHS Deutschland e.V. spielen dabei erbliche Veranlagungen und Umwelteinflüsse in der Zeit vor, während und kurz nach der Geburt, die die Entwicklung von Aufbau und Funktion des Gehirns beeinflussen, eine entscheidende Rolle. Für eine genetische Disposition spricht, dass Eltern dieser Kinder sehr häufig eine ähnliche Symptomatik zeigen. Dies hat sich vor allem in Adoptions- und Zwillingsstudien gezeigt.2

Die Mehrzahl der wissenschaftlich Tätigen geht heute davon aus, dass die Störung auf einer Dysfunktion bestimmter Regelsysteme im Frontalhirnbereich beruht, auf einem Ungleichgewicht in verschiedenen Neurotransmittersystemen. Die Botenstoffe Dopamin, Serotonin und Noradrenalin spielen hier eine entscheidende Rolle. Weitere Risikofaktoren sind Frühgeburtlichkeit, Rauchen, Alkohol und sonstiger Drogenkonsum der Mutter in der Schwangerschaft.

Mögliche Therapie- und Behandlungsmethoden

An diesem Punkt scheiden sich schnell die Geister. Außenbetrachtungen durch Menschen, die mit der Thematik nicht vertraut sind, wirken oft geprägt von Vorverurteilungen und Fehlannahmen. Eltern wird z.B. schnell vorgeworfen, dass sie ihr Kind ruhig stellen wollen, um sich zu entlasten. Kompetente Therapie- und Behandlungsmethoden sollen aber immer zuerst der betroffenen Person helfen. Wenn diese dann bei einem effizienten Verlauf eventuell dazu neigt, weniger in Konflikte mit der Umwelt zu geraten, ist dieses Verhalten lediglich ein Nebeneffekt der Interventionen. 

Aber ab wann ist es sinnvoll, über Therapie- und Behandlungsmethoden nachzudenken? Aus meiner persönlichen Einschätzung heraus, ist dies der Fall, wenn für die Betroffenen Leidensdruck entsteht oder das Verhalten dazu führt, dass die Teilhabe des Menschen am gesellschaftlichen Leben gefährdet ist. Folgende Therapie- und Behandlungsmethoden werden beispielsweise im Kontext von ADHS eingesetzt.

Psychoedukation

Dieser Ansatz zielt darauf ab, Betroffenen und ihren Familien ein besseres Verständnis der ADHS zu vermitteln. Informationen über die Erkrankung, Bewältigungsstrategien und Techniken zur Selbstregulation können Teil der Psychoedukation sein. Beispiele hierfür wären Bewegung und Sport, Progressive Muskelentspannung, spezielle Atemübungen, aber auch die regelmäßige Reflexion des eigenen Verhaltens. Diese Methoden eignen sich insbesondere für Menschen, die durch ihre Symptome nur leicht in ihrer Lebensführung eingeschränkt sind.

Verhaltenstherapie

Diese Form der Therapie konzentriert sich darauf, positive Verhaltensweisen zu fördern und negative Verhaltensweisen zu reduzieren. Elterntraining und Verhaltenstraining für Kinder sind oft Teil dieses Ansatzes.

Ergotherapie

Ergotherapie kann helfen, die alltäglichen Fähigkeiten zu verbessern, insbesondere bei Kindern. Dies kann die Entwicklung von organisatorischen Fähigkeiten, Feinmotorik und Konzentrationsfähigkeit umfassen.

Medikamentöse Behandlung

Für die medikamentöse Therapie der ADHS sind in Deutschland sowohl Stimulanzien wie Methylphenidat (Concerta, Ritalin) und Amphetamine (Attentin, Elvanse), als auch nicht stimulierende Wirkstoffe wie Atomoxetin (Strattera) und Guanfacin (Intuniv) zugelassen.

Ein besonderes Reizthema in diesem Bereich scheint die Einnahme von Ritalin zu sein. Das Medikament wird oft mit starken Nebenwirkungen wie Schlafstörungen, Reizbarkeit, Appetitlosigkeit, Übelkeit und Erbrechen in Bezug gebracht und von vielen Menschen pauschal stigmatisiert. Aber woher kommt der schlechte Ruf, wenn doch viele Betroffene davon berichten, wie gut das Medikament für sie wirkt? Studien des ADHS-Kompetenzzentrum Ostschweiz haben ergeben, dass Ritalin nur bei ca. 60% der ADHS-Patient:innen wirkt. So können also bei vielen Betroffenen unerwünschte Effekte oder das Fehlen einer Wirkung zutreffen. In diesen Fällen könnten dann andere Wirkstoffe eingesetzt werden.

Umgang mit von ADHS betroffenen Kindern und Jugendlichen

Wenn wir regelmäßig Kontakt zu Betroffenen haben, werden wir schnell feststellen, dass es besondere Strukturen und Kommunikationsmuster gibt, die uns ein gutes Miteinander ermöglichen können. Vor allem Kinder mit einer ADHS genießen strukturierte Umfelder sehr. Denn Strukturen engen nicht nur ein, sie sind zuverlässig, sorgen für Orientierung, Vorausschaubarkeit und Sicherheit.

In der Kommunikation wird immer wieder deutlich, dass der Ton die Musik macht. Betroffene Kinder reagieren besonders positiv auf wertschätzende Ansprache. Hier lohnt es sich vor allem auf Du-Botschaften zu verzichten, um einen anklagenden Unterton zu verhindern. Botschaften, die als Bitte formuliert werden, erfahren eine viel positivere Resonanz als Anweisungen im Befehlston.

Mein aller wichtigster Grundsatz lautet: Versuche immer eine positive Perspektive auf Menschen mit einer ADHS zu haben. Denn nur wenn wir ressourcenorientiert auf die Kinder blicken, ermöglichen wir uns eine lösungsorientierte Sichtweise auf Verhaltensweisen, die wir im Vorfeld eher als problematisch wahrgenommen hätten. Sollte uns dies gelingen, werden uns schnell viele der folgenden Eigenschaften bei Betroffenen auffallen: Kreativität, Hilfsbereitschaft, Einsatzbereitschaft, Sensibilität, Emotionalität, Ehrlichkeit, Begeisterungsfähigkeit, Spontanität, Charme und Ideenreichtum.

Unterm Strich könnte man zu der Erkenntnis kommen, dass uns Menschen mit ADHS in vielen Situationen dazu bringen, unsere Komfortzone zu verlassen. Die Kunst hierbei ist es, dies nicht als Belastung, sondern als Chance zur Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit zu nutzen.

Quellen

1 Swantje Matthies, Sabine Frauenknecht, Autismus und ADHS im Erwachsenenalter, in: Klaus Lieb, Sabine Frauenknecht (Hrsg.), Intensivkurs Psychiatrie und Psychotherapie, 9. Auflage, München: Elsevier GmbH 2019, 465 - 469 
2 Tobias Banaschewski, Genetik, in: Hans-Christoph Steinhausen, Manfred Döpfner, Martin Holtmann, Alexandra Philipsen & Aribert Rothenberger (Hrsg.), Handbuch ADHS: Grundlagen, Klinik, Therapie und Verlauf der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, 2. Auflage, Stuttgart: W. Kohlhammer GmbH 2020, 127 - 145

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Zur Person
Timo Warnholz ist Sozialfachwirt, Therapeutische Fachkraft für Autismus, Traumapädagoge/Traumafachberater mit systemischer Spezialisierung , Systemisch-lösungsorientierter Coach und war über 20 Jahre lang in sozialen Einrichtungen tätig. Er ist Geschäftsführender Gesellschafter eines Unternehmens mit dem Schwerpunkt Traumafachberatung und freiberuflicher Dozent an Fachschulen, Referent in der Fort- und Weiterbildung und Fachberater. Hierbei ist es ihm besonders wichtig, durch die Vermittlung fachlichen Hintergrundwissens Verständnis für komplexe Störungsbilder und die daraus resultierenden Verhaltensweisen und Symptome zu erzeugen.
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