Apr 14

„Die Kraft des Tröstens" - Trost ist prägend für eine verlässliche Bindung


Ein Lernartikel von Gundula Göbel 
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Das Wort "Trost" bedeutet Anteilnahme, Zuversicht, zwischenmenschliche Zuwendung und wohlwollende Begleitung von Gefühlen. Getröstet zu werden verbindet nicht nur Kinder und Eltern, sondern auch Kinder mit der Welt, in der sie leben. Wenn Kinder für sie belastende Gefühle miterleben, möchten sie diese ändern. Kinder können wunderbare Tröster sein, doch die emotionale Verantwortung kann Kinder auch belasten und schwer auf ihren Schultern wiegen. Kinder brauchen daher den Schutz, die Verlässlichkeit und den Trost ihrer Bezugspersonen.

Als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin konnte ich in meiner Praxis erleben und erfahren, wie wichtig das Trösten und Begleiten von Gefühlen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene ist. Als ich 2012 das Bindungsbaum-Konzept1 entwickelte, war es daher selbstverständlich für mich, Trost darin als eine entscheidende Bindungswurzel zu benennen. Eine verlässliche Bindung zum Kind setzt das angemessene Trösten vom Säuglingsalter an voraus. Verlässliche Bindung braucht ein Leben lang stete emotionale Nahrung. Deshalb brauchen wir vom Anfang unseres Lebens bis ins hohe Alter Trost und können durch angemessenes Trösten niemals verweichlicht oder verwöhnt werden.

Vielen Erwachsenen fällt es aber schwer, die schmerzlichen Gefühle, den Kummer und die Sorgen auszuhalten und liebevoll zu begleiten, d.h. das Kind zu trösten. Oftmals wollen Erwachsene die Gefühle des Kindes schnell „abstellen“, weil sie sich hilflos fühlen oder kaum Ideen haben, wie Kinder liebevoll getröstet und in ihren Gefühlen begleitet werden können. Starke Gefühle oder Traurigkeit, die das Kind überfluten, machen Angst. Aus der eigenen Hilflosigkeit werden Erwachsene dann streng, machen Versprechungen oder sprechen leider Drohungen oder Strafen aus. So werden Kinder schon früh psychisch belastet. Trösten bedeutet nicht, die Gefühle oder Schmerzen abzustellen, sondern durch Co-Regulation zu begleiten. Sorgen und Kummer sofort zu beseitigen oder zu bewerten, ist wenig hilfreich.

Warum fällt das Trösten so schwer?

Ob und wie wir in frühester Kindheit bei Kummer oder Schmerzen getröstet wurden, wirkt sich bis ins Erwachsenenalter aus, es prägt unseren Umgang mit Sorgen, Stress und Leid. Dies gilt sowohl für den Umgang mit unserem eigenen Leid als auch für den Umgang mit dem Kummer und Schmerzen unserer Kinder. Sind wir als Kind in einer sicheren Bindung, vertrauensvollen Beziehung und Geborgenheit aufgewachsen, in der unsere Bedürfnisse gehört und beachtet wurden, so können wir wahrscheinlich auch als Schulkinder, Jugendliche und Erwachsene anderen Menschen empathisch begegnen und gegebenenfalls trösten.

Sucht als falscher Trost

Alkohol, Drogen, Medien - wie z.B. Computerspiele, Handy- und Fernseh-Konsum -, aber auch Essen dienen vielen jungen Menschen als Kompensationsstrategie ihrer seelischen Not. Hinter jeder Sucht verbirgt sich eine Sehnsucht - dieser Satz ist schon alt und wird doch immer wichtiger. Aber warum? Wenn Babys und Kinder nicht frühzeitig spüren und erleben, dass Trost Geborgenheit, Nähe, Liebe, Dasein und Verständnis heißt, sondern sie als Trost nur Süßigkeiten, Ablenkung, Medien oder Geschenke erhalten haben, dann kann sich das innere Bild – Gefühle sind durch andere Menschen oder mit dem Grundgefühl der Geborgenheit veränderbar – nicht entwickeln. Es wurden keine stärkenden Bewältigungsstrategien verankert und erlernt, sondern Gefühle werden gegen sich selbst gerichtet, es fehlen emotional anwesende Erwachsene. Suchtmittel werden als sogenannte Tröster eingesetzt, um vermeintliche Unzulänglichkeit auszugleichen. Dieser kleine Exkurs zeigt deutlich, wie wichtig es ist, als Bezugspersonen und pädagogische Fachkräfte Säuglinge, Kleinstkinder, Kinder und Jugendliche angemessen zu trösten.

Es geht hier nicht darum, nicht auch mal eine Süßigkeit zu geben oder die Kinder den einen oder anderen Film schauen zu lassen. Falscher oder oberflächlicher Trost resultiert aus einer Grundhaltung heraus, dass die Emotionen der Kinder nicht oder zu wenig wahrgenommen werden oder Erwachsenen sogar Angst macht. Dabei bedeutet Trösten, die Bedürfnisse, Wahrnehmungen und Gefühle des anderen unbewertet anzunehmen, auch starke Gefühle von Wut, Traurigkeit oder Angst zu begleiten und nicht gleich mit Ablenkungen oder Geschenken zu kompensieren. Oftmals haben wir es leider selbst nicht anders gelernt und glauben, bei starken Gefühlen, sofort ins Handeln kommen zu müssen. Dabei geht es zunächst einmal um Ermutigung und Zuhören, weniger um Lösungen.

Trost im Säuglings- und Kleinstkindalter 

Ein Kind kann zum Glück von Geburt an durch Weinen, Schreien, starke Unruhe oder Stressreaktionen zeigen, dass es sich nicht wohl fühlt, Angst hat oder sein Bedürfnis nach Nähe, Nahrung oder Ruhe nicht erfüllt ist. Es kann sich bei starken Gefühlen durch Stressmomente ab einem gewissen Level nicht wieder eigenständig beruhigen und seine Gefühle kanalisieren. Der Grund dafür ist die Entwicklung des Gehirns, diese braucht noch viel Zeit und Begleitung.

Fühlt der Säugling oder das Kind starke negative Emotionen, hat es keine Möglichkeit, selbst aus dem Gefühlskarussell herauszukommen oder dies nicht erst aufkommen zu lassen. Dabei kann sich ein Kind durch Situationen gestresst oder völlig überfordert fühlen, die wir als Erwachsene vielleicht als selbstverständlich und keineswegs stressauslösend wahrnehmen. Dies können beispielsweise Unruhe, bestimmte Gerüche oder eine unerwartete Situation sein. Ein Kind lebt im Hier und Jetzt und hat noch nicht die Sicherheit und das Wissen abgespeichert oder verankert, dass sein Bedürfnis bald befriedigt wird, denn dies setzt eine gewisse Hirnreife voraus.

Das Kind ist wegen des noch unreifen Nervensystems nicht in der Lage, das eigene Stresssystem alleine zu beruhigen. Liebevolle Berührungen und die Stimme der Mutter, des Vaters oder der Bezugsperson deaktivieren das Stresssystem. Bei Trost sinkt der Cortisolspiegel, der Herzschlag wird regelmäßiger. Cortisol wird auch als Stresshormon bezeichnet, psychischer und physischer Stress setzen Cortisol frei. Damit ein Kind psychisch und körperlich gesund aufwachsen kann, braucht es gute Tröster und Trösterinnen.

Sichere Wurzeln durch das Trösten

Schon in der Säuglingszeit werden die wesentlichen Grundlagen dafür geschaffen, ob ein Kind seine Gefühle auslebt und verinnerlicht hat: „Ich bin nicht allein, meine Eltern geben mir Halt und erfüllen meine Grundbedürfnisse.” Diese Erfahrungen werden im Körper abgespeichert und erinnert.Leider ist das Thema Trost/Trösten über viele Jahre eher nebenbei betrachtet worden. Aufgrund meiner Praxiserfahrungen habe ich mich entschlossen, dieses Thema mit Schulungsmaterialien zu untermauern. Das von mir entwickelte Bindungsbaum-Konzept  2012 besteht aus sieben Bindungswurzeln. Eine entscheidende Bindungswurzel ist TROST. Des Weiteren habe ich die Darstellung „Trosttankstelle“ entwickelt2, um bildlich zu veranschaulichen, dass das Trösten von Säuglingen oder Jugendlichen ganz unterschiedlich, aber nicht mehr oder weniger wert ist und einen hohen Stellenwert im Bindungsaufbau sowie innerhalb der Entwicklung haben sollte.

Die Trosttankstelle

Das Modell beinhaltet eine Tankstelle mit vier Zapfsäulen und einem Tanksystem; aus dem Tank werden die Zapfsäulen gespeist. Es verdeutlicht, wie Kinder Vertrauen und Schutz, Trost und Halt, Verlässlichkeit und Sicherheit sowie die Fähigkeit zur Selbstregulation „tanken“ können.

1. Säule: Co-Regulation – Vertrauen und Schutz durch Kontakt

Die erste Säule der Trosttankstelle bildet die Co-Regulation ab. Vom Augenblick seiner Geburt benötigt ein Säugling die Unterstützung seiner Eltern bzw. seiner Bezugspersonen. Dies geschieht durch ihre liebevolle Blicke, ihr Lächeln, ihre Mimik und Gestik (Resonanz), ihre körperliche Nähe durch Streicheln, Schaukeln, Wiegen, Tragen, Umarmen und andere zärtliche Berührungen, Stillen, Flasche-Geben, die bekannten Stimmen und vertrauten Gerüche. Gerade letztere sind für Babys sehr wichtig und oft lassen sie sich bereits gut trösten und beruhigen, wenn sie nur den Geruch oder die Stimme der Eltern oder Bezugspersonen wahrnehmen.

Diese verschiedenen beschriebenen Formen der Co-Regulation vermitteln dem Kind von Anfang an das Gefühl, dass es nicht allein ist, dass es begleitet und umsorgt wird, dass jemand mit ihm fühlt und immer für es da ist. Babys und Kinder brauchen dringend Co-Regulation, um zu erfahren, wie Gefühle veränderbar sind und der Erregungszustand durch die Unterstützung der Bezugsperson zu regulieren ist, damit Körper und Psyche eine alternative Stressabbau-Strategie zum Schreien und Weinen etablieren können. Für eine angemessene Hirnentwicklung sind Trosterfahrungen durch Co-Regulation von größter Bedeutung. Trost prägt die frühe Gehirnentwicklung und die eigene Stressverarbeitung ein Leben lang. 

2. Säule: Übergangsobjekte – Trost und Halt durch Sicherheitsgeber

Die Co-Regulation, welche durch die Bezugspersonen stattfindet, wird durch Übergangsobjekte ca. ab dem 4. Monat ergänzt und erweitert. Sicherheit geben können Kuscheltücher, Schnuller, Kuscheltiere, Kissen, Decken, Kleidungsstücke mit dem vertrauten Gerüchen, Lieblingsspielzeuge, Fotos oder vertraute Musik. Säuglinge lassen sich oft durch einen Schnuller beruhigen, wobei dieser jedoch nicht zu früh als Übergangsobjekt gegeben werden sollte. Besser ist es, zuerst durch liebevolle Zuwendung und körperliche Nähe zu trösten, anstatt dem Kind immer wieder einen Schnuller in den Mund zu stecken und ihn dort so lange festzuhalten, bis das Kind ihn nicht mehr ausspuckt. Gleiches gilt für Kuscheltiere: Auch hier sollte man dem Kind nicht einen Plüschhasen in den Arm legen und ihm „beibringen“, dass dieser jetzt das Übergangsobjekt ist, sondern Zeit geben und die Entwicklung abwarten, was für das Kind ein angemessenes Übergangsobjekt ist.

Nicht jedes Kind nimmt ein Übergangsobjekt als Unterstützung an. Jedes Kind ist verschieden und genau so soll es sein. Ein Übergangsobjekt ist sinngemäß nach Donald Winnicott ein selbst gewähltes Objekt (z.B. ein Tuch), das den Raum zwischen Bezugsperson und Kleinkind füllt oder einnehmen kann. Manchen Kindern bietet ein Übergangsobjekt Sicherheit. Oftmals hilft ein Übergangsobjekt, tröstet oder unterstützt, die Zeit des Getrenntseins zu bewältigen oder emotional zu verarbeiten. Auch Jugendliche oder Erwachsene nutzen zum Teil noch Übergangsobjekte, um sich sicherer und verbunden zu fühlen.

3. Säule: Verlässlichkeit – Sicherheit durch immer wiederkehrende Abläufe

Den meisten kleinen Kindern, aber auch vielen größeren und erwachsenen Menschen, bieten zuverlässig wiederkehrende Abläufe Sicherheit und Trost. Dies ist besonders in Trennungssituationen wichtig, damit sie sich auf etwas verlassen und dem Gesagten vertrauen können. Da Kinder ein wirkliches Zeitgefühl erst mit ungefähr 8-9 Jahren entwickeln, orientieren sie sich bis dahin meist an den immer gleichen äußeren Gegebenheiten und Handlungen, an Ritualen, Strukturen und Wiederholungen.

Die Sicherheit, eine Geburtstagskerze auspusten zu dürfen, am Sonntag gemütlich zu frühstücken, am Mittwoch vielleicht immer den Tag  bei Oma zu verbringen, am Abend ein Lied mit der Mama zu singen oder der Guten Morgen-Kuss vom Papa schafft Verlässlichkeit. Trostlieder, Trostverse oder Pusten und das besondere Pflaster gehören auch dazu. Diese Verlässlichkeit kann über schwierige Situation hinwegtrösten. Die Zuversicht und Wiederholungen geben Halt und Vertrauen.

4. Säule: Selbstregulation – Gefühle durch Aktivität eigenständig verändern

Meist sind Kinder ab ca. 5/6 Jahren in der Lage, sich zu trösten und haben Ideen, wie sie  ihre Gefühle regulieren können, z.B. „Ich bin so wütend, ich will erstmal schreien, trampeln oder in den Arm genommen werden.“ Trost braucht man nicht nur, wenn man traurig ist, sondern auch, wenn man sich wütend oder hilflos fühlt und die Gefühle einen überschwemmen. Je älter wir werden, desto eher haben wir die Möglichkeit und Fähigkeiten zur Selbstregulation. Selbstregulation bedeutet, seine Gefühle eigenständig zu steuern und zu verändern. Viele Erwachsene benötigen, wenn sie sich unglücklich fühlen, Bewegung wie z.B. Joggen, Fahrrad fahren oder spazieren gehen – am besten im Wald, wo sie wenig Reizen ausgesetzt sind und den besonderen Geruch der Erde und der Bäume einatmen, Ruhe finden und Sauerstoff tanken.

Schulkinder, Jugendliche oder Erwachsene benötigen vielleicht ihr Instrument, ihre Kreativität oder ihre Ruheinseln, um Trost zu spüren und ihre Gefühle zu ordnen, um danach Handlungsstrategien für sich zu entdecken. Einige Kinder wollen Kraft ausüben, wenn sie sehr traurig sind; dann möchten sie kämpfen, rennen, toben und sich selbst richtig spüren – in diesen Momenten hilft ihnen ein Boxsack meist mehr als ein Taschentuch. Insofern ist Bewegung regelrecht heilsam, trostreich und ein guter Ausgleich. Andere Kinder wollen sich zurückziehen, auch das kann ihnen in dem Moment helfen.

Selbstfürsorge-Tank – Selbstfürsorge und Psychohygiene

Alle die 4 Säulen können nur genutzt werden, wenn der Selbstfürsorge-Tank ausreichend befüllt ist. Erwachsene können Kinder nur trösten, wenn sie sich selbst emotional versorgen, ihre Bedürfnisse stillen und achtsam mit sich sind. Denn für Kinder sind Erwachsene auch Bindungs- und Trostvorbilder. Bei starken zu tröstenden Gefühlen, ob beim Säugling, Kind, Jugendlichen oder Erwachsenen, ist meist unser Stresssystem aktiviert. Deshalb benötigen wir Selbstfürsorge. Hier ist es sehr hilfreich, achtsam unsere Beziehungen zu pflegen und darauf zu schauen, dass unsere eigenen Bedürfnisse nicht untergehen. Unseren Selbstfürsorgetank zu füllen ist eine entscheidende Aufgabe. Nur so können wir eine gute „Trost-Tankstellen“ für Kinder sein.

Gibt es ein Zuviel an Trost?

Manche Erwachsene haben Angst, sie könnten ihre Kinder durch das Trösten zu sehr verwöhnen und Kinder würden aufgrund von zu viel Trost allzu wehleidig werden. Aus meiner Praxiserfahrung kann ich Eltern und Fachkräfte beruhigen, denn bei angemessenem und mitfühlendem Trösten ist eine solche Entwicklung gar nicht möglich. Wehleidigkeit oder eine gewisse Härte gegen sich selbst gibt es bei Kindern oder Erwachsenen, die von ihren Bezugspersonen nicht oder unangemessen (ständige Ablenkung, Essen als Trost, Schimpfen oder Geschenke) „getröstet“ wurden. „Beim Trösten geht es ums Dasein, Zuhören, Ermutigen, weniger um Lösungen.“

© Gundula Göbel 2023
1 Schulungsbox: Bonding – Bindung – Bildung: Alles zum Bindungsbaum-Konzept und mit Materialien zum Thema Trost
2 Broschüre „Die Kraft des Tröstens“ beinhaltet die Darstellung und Beschreibung der Trosttankstelle
Veröffentlichungen siehe www.thekla.de/shop oder www.infantastic.de

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Zur Person
Gundula Göbel ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Traumatherapeutin, Paar- und Familientherapeutin und Spieltherapeutin. Außerdem ist sie Autorin und Referentin. Das Thema Eltern-Kind-Bindung liegt ihr besonders am Herzen. 

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