Mar 14

Hochbegabung schon in der Kita?

Ein Lernartikel von Dina Mazzotti
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Die Mutter, die mich kürzlich angerufen hat, klang verzweifelt: Ihr dreijähriges Mädchen bringt die Erzieher:innen an ihre Grenzen. Offenbar kann man ihrer Tochter Paula nichts recht machen. Sie schmeißt Spiele in die Ecke, macht die Bauwerke der anderen Kinder kaputt und hat sich schon mal so fest in den Arm gebissen, dass es geblutet hat. Da die Mutter berufstätig ist, ist es keine Alternative, Paula längerfristig daheim zu behalten.

Im Gespräch stellte sich außerdem heraus, dass Paula zwar die ersten paar Wochen recht gern in die KiTa ging, es dann aber immer mehr Überredungskünste brauchte. Laut der Mutter ist Paula ein vielseitig interessiertes Kind, das sich für Zahlen und einfache Rechnungen begeistert und sich stundenlang mit dem Klötzchenmosaik sowie mit anspruchsvollen Puzzles beschäftigen kann. Dafür reagiert sie panisch, wenn sie das Geräusch des Haartrockners hört. Dazu hat sie von klein an alle Etiketten aus ihren Kleidern gezupft, weil sie kratzen. Ohne das Kind gesehen zu haben, finde ich es recht anspruchsvoll, Hinweise zu geben oder Diagnosen zu stellen. Aus vielen Elterngesprächen und langjähriger Erfahrung haben sich aber diese drei Hauptgründe für herausforderndes Verhalten herauskristallisiert:

1. Unterforderung 

Aufgrund der Beschreibung der Mutter liegt hier der Verdacht auf Unterforderung nahe. Viele Kitas haben diesen Aspekt noch nicht im Visier. Gerade erfahrene Betreuungspersonen haben manchmal genaue Vorstellungen davon, wie ein dreijähriges Kind zu sein hat und was es können sollte. Gleichzeitig gibt es selbstverständlich auch Bezugspersonen, die gerade aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung sensibilisiert sind und auf besondere Bedürfnisse reagieren können.

Als Porsche in der 30er-Zone unterwegs zu sein, ist frustrierend. Seine Fähigkeiten nicht ausleben zu können ebenfalls. Ich höre oft, dass in der Kita vor allem festgehalten wird, was die Kinder nicht können. Mit diesem Blickwinkel wird leider verpasst, welche Kompetenzen die Kleinen bereits aufweisen. Das ist der Beginn eines Systems, welches oft im Kindergarten beginnt und in der Grundschule so weitergeführt wird. Defizitorientierung ist langfristig selten zielführend.

KiTa-Kinder auf Hochbegabung testen?

Ich persönlich finde, dass so junge Kinder in aller Regel nicht mit einer Intelligenztestung behelligt werden müssen. Ich selbst führe diese in meiner Praxis nicht vor einem Alter von sechs Jahren durch, weil die Resultate vorher nicht wirklich valide sind. Die Erfahrung zeigt, dass junge Kinder durch sorgfältiges Begleiten in ihren Interessen durchaus gut gefördert werden können. Dokumentieren Erzieher:innen und Eltern das Verhalten ihrer Schützlinge in verschiedenen Situation auch langfristig, haben sie ein äußerst aussagekräftiges Instrument in der Hand. Selbstverständlich kann man bei dieser Frage geteilter Meinung sein. 

Unterforderung in der KiTa vermeiden - geht das? 

Ja, selbstverständlich geht das! Allerdings muss die Unterforderung eines Kindes zuerst überhaupt erkannt werden. Wie schon erwähnt, sind viele Beobachtungsbögen in Kitas leider eher defizitorientiert. Den Fokus auf vorhandene oder vermutete Stärken zu legen, erfordert allerdings ein Umdenken, das von der Leitung, respektive den Erziehenden initiiert werden muss und manchmal ein bisschen Zeit braucht.
Nach einem erfolgreichen Umdenken kann das Angebot der Kita erweitert werden. Diese Angebotsanreicherung, im Fachjargon auch Enrichment genannt, ist in den Schulen durchaus bekannt – und wird trotzdem immer noch zu wenig umgesetzt. Dabei gibt es auch für die Kita einige Möglichkeiten:

  • Das Spielen ist beim Thema Unterforderung oft nicht auf dem Radar. Es wird ja bereits in der Kita schon gespielt. Es kann sich lohnen, einmal über die Altersangaben auf der Spielanleitung nachzudenken, herausfordernde Einzel- oder Gruppenspiele einzuführen oder die Kinder aus bestehendem Spielmaterial neue Spiele erfinden zu lassen.

  • Projekte starten, welche die Kinder zum Beobachten, Vermuten oder einfachem Dokumentieren anregen.
  • Themenwochen planen, in denen verschiedene Aktivitäten möglich sind. Die einen Kinder sind ganz praktisch veranlagt, andere mögen sich künstlerisch ausdrücken, wieder andere sehen überall Zahlen oder lesen schon kleine Texte.
Jede Kita sollte grundsätzlich so gestaltet sein, dass sie dem Explorationsbedürfnis der Kinder Rechnung trägt und viel Raum für Erfahrungen und Experimente bleibt. 

2. Reizüberflutung 

Viele Kitas sind so einladend, freundlich und farbig eingerichtet, dass einem das Herz aufgeht. Das ist wunderschön. Allerdings haben wir heute viel mehr Kinder, die so extrem feine Antennen haben, dass ihnen all die visuellen, auditiven und olfaktorischen Eindrücke, die auf sie einprasseln, einfach schnell zu viel sind. Eine grobe Schätzung geht davon aus, dass 15-20% aller Menschen hochsensitiv sind1. Bei den 2-3% Kindern, die hochbegabt sind, also kognitiv ein oder mehrere Jahre vor ihren gleichaltrigen Kamerad:innen liegen, soll der Prozentsatz tendenziell noch etwas höher sein2. Viele hochbegabte Kinder haben also gleichzeitig noch eine erhöhte Sensitivität – was einen "kindgerecht" eingerichteten Raum unter Umständen zu einer Herausforderung machen kann.

Wenn ich Kitas besuche – hin und wieder spiele ich dort Mäuschen und beobachte ein Kind – werden meine Sinne vielfältig aktiviert: Orangen werden geschält, ein Kind schreit wie am Spieß und die Halloween-Deko leuchtet grell-orange. Was für mich schon eine Herausforderung ist, kann bei sensitiven Kindern, die ihre Selbstregulation noch nicht im Griff haben, zu einem totalen mentalen Overkill führen. Kinder wie Paula geraten in einen Ausnahmezustand. Sie drehen durch und beissen sich, um sich überhaupt noch spüren zu können, auch mal in den eigenen Arm. Während wir Erwachsenen mehr oder weniger gut mit solch einer Reizüberflutung umgehen können, manövrieren wir (hoch-)sensitive Kinder mit ihrem sensiblen Nervenkostüm über die Grenze der Belastbarkeit.

3. Misfit - fehlende Passung 

Den Begriff «MisFit», auf Deutsch habe ich erstmals bei Remo Largo, dem verstorbenen Züricher Kinderarzt und Autor von Baby-, Kinder- und Schüler-Jahren, gelesen. In der deutschen Übersetzung heißt MisFit so viel wie Außenseiter oder Einzelgänger. 

Je nach Führungsstruktur einer Kita kann die Passung, also das Zugehörigkeitsgefühl eines Kindes, zu einer Gruppe fehlen. Bevor entschieden wird, ob ein Kind die angedachte Kita besucht, sollte daher eine ausgedehnte Schnupperphase möglich sein. Das eine Kind braucht viele Auswahlmöglichkeiten. Was es wann wo mit wem spielt, sollte daher flexibel gehandhabt werden können. In einer Kita mit eher offenen Strukturen braucht ein anderes Kind aber vielleicht ein stabileres Gefüge. Es gibt also vieles zu beachten. Trotzdem habe ich schon einige Kitas besucht, in denen die pädagogischen Fachkräfte viel über Hochbegabung und die Gefahren von Unterforderung wussten und auf die besonderen Bedürfnisse von Kindern eingegangen sind. Begabungen und Interessen wurden im Alltag dieser Kitas thematisiert und die Herausforderungen sorgfältig begleitet. Es gibt sie also – jene Kitas, die ein Augenmerk auf hochbegabte (und auch hochsensitive) Kinder haben!

Anpassungsleistungen sind anstrengend

Es gibt viele Gründe, die erklären, warum sich leider viele Erzieher:innen schwer damit tun, auf die besonderen Bedürfnisse hochbegabter und unterforderter Kinder in der Kita einzugehen. Es ist den meisten Erwachsenen kaum bewusst, wie enorm die Anpassungsleistungen, welche die kleinen Knirpse den ganzen Tag leisten müssen, sind. Wir kennen zwar die Frustration und Unzufriedenheit, wenn wir unsere eigenen Bedürfnisse zurückstellen müssen und unsere Fähigkeiten nicht ausleben können – vergessen aber, dass es Kindern genau gleich geht. Dass Kinder vor Verzweiflung ausrasten, ist mit der Erklärung und ein bisschen Einfühlungsvermögen doch absolut nachvollziehbar, nicht wahr?

Wir Erwachsenen sind dran 

Damit das ein für alle Mal gesagt ist: Es ist hier nicht Paula, die sich ändern muss! Sie ist ein tolles Mädchen und kennt als Dreijährige noch keine Strategien, wie sie auf ihre unbefriedigende Situation aufmerksam machen kann. Zumal sie wahrscheinlich kaum benennen kann, was denn überhaupt falsch läuft. Hier braucht es jetzt ein starkes, verlässliches Team, das aus Paulas Mutter samt dem getrenntlebenden Vater sowie den Erzieher:innen besteht. Diese Menschen sollten sich zusammensetzen und sich, basierend auf dem Input aller Beteiligten, ein gutes Konzept und Vorgehen überlegen, wie Paula aus ihrer Not heraus geholfen werden kann. Kommen diese Menschen in ihren Überlegungen nicht weiter, können sie sich Rat von Begabungsexpert:innen einholen. Kinder mit besonderen Bedürfnissen haben ein Recht auf besondere Massnahmen! Dass dies bei Kindern mit Beeinträchtigungen meist recht gut funktioniert, wissen wir. Wieso soll es dann auf der anderen Seite der Skala nicht gehen?
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Hochbegabte Kinder in der Kita 

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Zur Person
Dina Mazzotti, ist Begabungsexpertin, Lehrerin, Dozentin, Autorin und Mutter zweier erwachsener Söhne mit Lebensmittelpunkt in Rothenburg bei Luzern (CH). Sie berät und begleitet Familien und Schulen rund ums Thema Hochbegabung und liebt es, mit Kindern und ihren Schulen unterwegs zu sein und vor Ort unkonventionelle Lösungen zu finden. Sie bloggt wöchentlich auf ihrer Website dina-mazzotti.com. Man findet sie auch auf Instagram unter begabtentante.mit.hund oder auf Facebook unter «begabt & glücklich».
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