Feb 16

Kinder beobachten und unterstützen – die Leuvener Engagiertheitsskala


Ein Artikel von Dr. Sabine Hebenstreit-Müller 
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Kinder beobachten und unterstützen – die Leuvener Engagiertheitsskala

Lernprozesse sind besonders intensiv, wenn sie mit einem hohen Grad an Interesse verbunden sind und Kinder sich in ihrer Umgebung wohlfühlen. Doch wecken ehrgeizige und gut gemeinte pädagogische Angebote immer das Engagement von Kindern? Dazu ein Beispiel aus einer Beobachtung in einer Musikkita:

Eine Musikerin besucht eine Kita, um auf ihrer Geige Schuberts »Forelle« zu spielen. Die Kita-Leiterin hat sich ihrerseits auf ein festes Programm vorbereitet, in dem sie Regie führt und Schuberts Liedstrophen vorträgt. Dazu wird eine große Silberfolie ausgelegt, die einen Fluss darstellen soll. Die Kinder sollen Wellen darauf erzeugen und Sand aus einer großen Kiste auf der Folie ausgießen, um ein Flussbett nachzustellen. Die Musikerin hat die Aufgabe der musikalischen Untermalung. Die an diesem Tag anwesenden externen Besucher:innen sind begeistert vom aufwändigen Angebot.1

Die Kita-Leiterin hatte sich im Vorfeld des Besuches viele Gedanken gemacht, um das Angebot der Musikerin mit vielfältigen Aktionen zu begleiten. Diese kamen bei den Besucher:innen augenscheinlich weitaus besser an als bei den Kindern. Denen fiel es schwer, den häufigen Wechseln des Programms zu folgen. In diesem Fall ging das schöne Angebot an den eigentlichen Adressaten offenkundig vorbei. 

Vom Kind aus denken

Aus pädagogischer Sicht geht es demgegenüber um Fragen wie:
  • Kommt das Angebot eigentlich bei den Kindern an, weckt es ihr Interesse? 
  • Werden Bildungsprozesse angeregt und erhalten die Kinder die Chance, ihre Fragen und Interessen einzubringen? 
Genau diese Fragen stehen im Mittelpunkt der Engagiertheitsskala, die im niederländischen Leuven entwickelt wurde. Pädagogische Qualität wird dabei vom Kind her definiert: Gut sind die Angebote und pädagogische Settings, die das Wohlbefinden und die Engagiertheit der Kinder ermöglichen bzw. erhöhen. Kinder lernen am ehesten und bilden sich, wenn sie sich wohlfühlen und ganz bei sich und bei der Sache sind. Dies zu ermöglichen ist die pädagogische Kernaufgabe. In Leuven wurde dem folgend ein kindzentriertes Beobachtungssystem mit dem Fokus auf Wohlbefinden und Engagiertheit entwickelt, das dabei hilft, Kinder gezielter zu fördern und zu begleiten.

Wohlbefinden und Engagiertheit

Wohlbefinden korrespondiert mit dem Gefühl, »sich zu Hause zu fühlen« und »man selbst sein« zu können. Kinder, die sich wohlfühlen, sind am ehesten bereit, sich offen auf ihre Umgebung einzulassen und Neues auszuprobieren. Negative Emotionen können die kognitive Entwicklung hemmen, während positive Emotionen die Kreativität und Aufnahmefähigkeit für neue Einsichten vergrößern.

Engagiertheit ist ein Ausdruck für intensive menschliche Aktivität. Sie lässt sich in allen Altersstufen beobachten. Manchmal entsteht dabei eine Art Flow, eine Erfahrung, bei der wir ganz und gar im Augenblick leben und in der Aufgabe versunken sind. Kinder – und Erwachsene ebenso – nutzen dabei das gesamte Potenzial ihrer Möglichkeiten und sind hoch motiviert, etwas dazu zu lernen. Eine hohe Engagiertheit kann deshalb als direktester und verlässlichster Hinweis auf tiefgreifende Lernprozesse angesehen werden.

Das Lernen sichtbar machen

Ob sich Kinder wohlfühlen und engagiert in ihr Spiel vertieft sind, lässt sich beobachten. Es gibt dafür wahrnehmbare Anzeichen, die von der Leuvener Engagiertheitsskala Signale genannt werden. Die folgenden Signale sind als Anhaltspunkte zu verstehen, die dabei helfen, das individuelle Ausmaß an Wohlbefinden und Engagiertheit bei Kindern einzuschätzen.2 Charakteristisch bei Wohlbefinden sind:
  • Offenheit
  • Flexibilität
  • Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl
  • Durchsetzungsvermögen
  • Vitalität
  • Entspannung und innere Ruhe
  • Genießen können
  • Im Einklang mit sich selbst sein

Engagiertheit ist an folgenden Signalen ablesbar: 
  • Gezielte Aufmerksamkeit
  • Energie
  • Komplexität, Vielschichtigkeit, Kreativität
  • Gesichtsausdruck und Körperhaltung
  • Ausdauer
  • Genauigkeit
  • Reaktionsbereitschaft
  • Verbale Äußerungen
  • Zufriedenheit
     
Es handelt sich hier nicht um eine endgültige und abschließende Aufzählung von Anzeichen. Vielmehr geht es darum, die Signale zu benennen, die helfen, Wohlbefinden und Engagiertheit nachvollziehbar und sichtbar zu machen. Klar ist auch: es geht nicht um eine Erhebung sogenannter objektiver Daten, sondern um Einschätzungen, die immer subjektiv und situativ bedingt sind. Umso wichtiger sind genaue Beobachtungen und Beschreibungen, anhand derer sich zeigen lässt, warum es zu einer bestimmten Einschätzung gekommen ist.

Die Perspektive des Kindes einnehmen

Eine Einschätzung des individuellen Wohlbefindens und der Engagiertheit des Kindes gelingt am besten, wenn die Erwachsenen versuchen, die Perspektive des Kindes einzunehmen und sich in das Kind hineinversetzen, also gleichzeitig beobachten, miterleben und nachfühlen können. Wie fühlt es sich an, in dieser Spielsituation zu sein? Wie lässt sich das Kind darauf ein? Was fühlt, denkt, empfindet es gerade? Ist die Aktivität für das Kind bedeutsam, welchen Sinn hat sie für das Kind?

Es geht darum, das Kind aus sich heraus zu verstehen und eigene Interpretationen seines Verhaltens zurückzustellen. Das bedeutet aber nicht, dass die Beobachtungen auf diese Weise gleichsam »objektiv« werden. Wir sind und bleiben immer unterschiedliche Subjekte mit individuellen Erfahrungen und Sichtweisen, mit denen wir die Welt um uns herum wahrnehmen. Auch die Kinder agieren in verschiedenen Situationen anders, sind mal neugierig und interessiert, mal eher gelangweilt. Unser Anliegen ist es, genau die Situationen herauszufinden, die für die Kinder spannend und anregend sein können.

Das Gefühl, etwas geschafft zu haben

Es geht nicht darum, das Kind zu verändern oder ihm Attribute wie »unaufmerksam«, »desinteressiert« oder »impulsiv« zuzuschreiben. Die Fragen lauten vielmehr: Finden die Kinder in der Einrichtung die Herausforderungen, die sie benötigen, um in ein intensives Spiel zu kommen oder sich im Schulunterricht aktiv einzubringen? Höhere Engagiertheit zeigen die Kinder generell eher, wenn pädagogische Fachkräfte empathisch auf sie reagieren und sie in ihrem Tun ernst nehmen. Manchmal bringen Kinder bei einer intensiven Tätigkeit ihre Zufriedenheit darüber, dass sie etwas geschafft haben, deutlich zum Ausdruck.

Josefine hockt vor einem Baumstumpf und knackt darauf mit Hilfe eines größeren Steins eine Haselnuss. Sie pult geschickt die Nuss aus der geöffneten Schale und steckt sie sich in den Mund. Dabei schaut sie stolz in die Runde der anderen Kinder und verkündet: »Ich esse!«3

Josefine hat etwas geschafft, auf das sie stolz sein kann. Und sie bringt dies gegenüber den anderen Kindern deutlich zum Ausdruck. Vor dem Hintergrund der Engagiertheitsskala können wir es als ein Indiz für eine gute Qualität der Einrichtung werten, wenn wir Kinder sehen können, die intensiv mit etwas befasst sind oder gar das Gefühl stolzer Selbstzufriedenheit zum Ausdruck bringen. 

Dokumentieren und in den Austausch gehen

Tom, dreieinhalb Jahre alt, spielt mit vier weiteren Jungen im Alter von vier bis fünf Jahren Fußball auf einem Rasengelände mit zwei Toren. Der Junge rennt mit äußerstem Eifer hinter dem Ball her, schafft es, zwei größeren Jungen den Ball zu entwenden, indem er von hinten dazwischen grätscht. Ihre Verblüffung ausnutzend dribbelt er mit dem Ball zum Tor. Kurz davor wird er von einem Mitspieler eingeholt und am Anorak festgehalten. Das hindert ihn nicht, den Ball ins Tor zu schießen. Dabei stürzt er zu Boden, rappelt sich wieder auf und rennt hinter dem Ball her, der von dem größeren Jungen ins Mittelfeld geworfen wurde. Während der gesamten Zeit ist er voller Energie beim Spiel.

Der Junge, der sonst häufig im Abseits steht, zeigt beim Fußballspielen großes Können und enormen Eifer. Er will den Ball ins Tor schießen. Nichts anderes zählt in diesem Augenblick. Tom zeigt ein hohes Maß an Engagiertheit. Es sind diese Momente, in denen das Kind ganz bei sich und bei der Sache ist, in denen es sich bildet. Wenn solche Situationen notiert und dokumentiert werden, bilden sie eine wichtige Grundlage für die eigene Reflexion wie auch für den Austausch mit anderen, ob mit Kolleg:innen, Eltern oder Kindern. 

Die Einbeziehung der Eltern

Die Möglichkeit, das Lernen der Kinder sichtbar zu machen, erleichtert den pädagogischen Austausch und die Einbeziehung von Kindern und Eltern. Üblicherweise haben Eltern ein großes Interesse daran, dass es ihren Kindern gut geht und sie sich in eine Sache vertiefen können. Auch sie können ihr Kind mithilfe der Kategorien Wohlbefinden und Engagiertheit zu Hause beobachten und sich darüber mit der pädagogischen Fachkraft in einen Austausch begeben. Auf diese Weise werden die Stärken und Möglichkeiten des Kindes noch genauer wahrgenommen. Wenn Eltern und Pädagog:innen gemeinsam in die Reflexion ihrer Beobachtungen gehen, kommen unterschiedliche Aspekte zusammen, die die Perspektive auf das Kind für beide Seiten erheblich bereichern.

Auswertung und Schlussfolgerungen für die pädagogische Arbeit

Die Einschätzung von Wohlbefinden und Engagiertheit allein genügt nicht und kann nur der erste Schritt sein. Für die pädagogische Arbeit wesentlich sind die Schlussfolgerungen und Konsequenzen, die daraus folgen. Für die Auswertung der Beobachtungen ist es daher bedeutsam, weitere Fragen zu stellen: 

  • Welche möglichen Faktoren oder Bedingungen haben die Engagiertheit bewirkt?
  • Wodurch wurde das Interesse geweckt?
  • Welchen Beitrag hatten andere Kinder oder Erwachsene?
  • Was könnte ich tun, um das Wohlbefinden und die Engagiertheit zu erhöhen, aufrechtzuerhalten oder zu erweitern?


Ein Mädchen, zwei Jahre, sitzt auf dem Schoß der Erzieherin in einer Gruppe von fünf weiteren Kindern, die Musikinstrumente erproben. Das Mädchen schaut interessiert zu und hält dabei die Hand der Erzieherin. Sie beobachtet genau und wendet den Kopf von einem Kind zum anderen. Zwei Jungen trommeln. Die Erzieherin nimmt eine weitere Trommel und reicht sie dem Mädchen: »Willst du auch trommeln?« Sie hält die Trommel vor das Kind, das darauf mit der flachen Hand klatscht und Töne erzeugt. Dabei hat sie einen lächelnd-erfreuten Gesichtsausdruck. Kurz darauf nimmt sie die Trommel an sich und umarmt und drückt sie an sich wie ein Teddy. Sie schaut die Erzieherin an und wiegt dabei sanft die Trommel.


Augenscheinlich fühlt sich das Mädchen wohl. Dazu trägt sicher auch die körperliche Nähe zur Erzieherin bei, die ihr Geborgenheit und Sicherheit vermittelt. Sie nutzt diese Position, um das Tun der anderen Kinder zu beobachten und reagiert erfreut auf das Angebot der Erzieherin. Die Auswertungsfragen helfen dabei, sich Gedanken zu machen, auf welche Weise das Mädchen dabei unterstützt werden kann, sich gemeinsam mit anderen Kindern in der Kita wohlzufühlen und sich auf Anregungen einzulassen. 

Anregungen und Herausforderungen bieten

Bei engagierten Aktivitäten fühlt man sich herausgefordert. Dies ist dann der Fall, wenn Angebote an das anknüpfen, was die Kinder bereits können, dabei aber einen kleinen Schritt weitergehen. Sein Bestes kann jemand leisten, wenn all ihre bzw. seine Möglichkeiten und Fähigkeiten angesprochen werden. Engagiertheit tritt nicht ein, wenn die Angebote zu einfach oder die Anforderungen zu hoch sind. Sie ist, so erläutert es der Psychologe Lew Vygotsky, erwartungsgemäß am höchsten in der Zone der nächstmöglichen Entwicklung, die den Unterschied ausmacht zwischen dem, was ein:e Lernende:r ohne Hilfe tun kann, und dem, was er bzw. sie – noch – nicht tun kann. Kinder sind neugierig und wissbegierig.

Herausforderungen entstehen da, wo neue Lernerfahrungen an das bereits vorhandene Wissen anknüpfen, aber auch ein Stück Unbekanntes enthalten. Dies bedeutet oftmals allerdings auch, die eigene Komfortzone, in der man sich auf eingefahrene Routinen verlassen kann und sich nicht sonderlich anstrengen muss, zu verlassen. Das sichere Gefühl, auch bei einem Scheitern angenommen und aufgehoben zu werden, hilft dabei, aus der Komfortzone zu treten, um neue Wege zu erproben. Daher brauchen Selbstbildungsprozesse der Kinder auch bewusste Anregungen und Begleitung durch die Erwachsenen. 

Die Leuvener Engagiertheitsskala – ein alltagstaugliches pädagogisches Instrument

Abschließend ist festzustellen: Die Leuvener Engagiertheitsskala erweist sich im pädagogischen Alltag als besonders praktikabel und effektiv. Sie lässt sich in Fort- und Weiterbildungen anhand von vielfältigen Beispielen und eigenen Übungen anschaulich vermitteln und erproben. Dabei kann sie die Qualität und Freude an der pädagogischen Arbeit erheblich verbessern und bereichern.

Quellen

1 Mohn, Bina und Hebenstreit-Müller, Sabine (2009). Unter Druck: ein schönes Programm am Kind vorbei, in: Kinder Künstler Instrumente. Musik in der Kita (DVD 6). Kamera-Ethnographische Studien des Pestalozzi-Fröbel-Hauses Berlin. Göttingen: IVE Institut für Visuelle Ethnographie

Vandenbussche, E. & Laevers, F. (2009). Beobachtung und Begleitung von Kindern - Arbeitsbuch zur Leuvener Engagiertheitsskala. Erkelenz: Berufskolleg, S. 14 f.

3  Mohn, Bina und Hebenstreit-Müller, Sabine (2007), Beobachten lernen: Übungsszenen. Josefine. In: Kindern auf der Spur. Kita-Pädagogik als Blickschule (DVD 1). Kamera-Ethographische Studien des Pestalozzi-Fröbel-Hauses Berlin. Göttingen: IVE Institut für Visuelle Ethnographie (Bestell Nr. IVE C 13117)

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